Was mir hilft, im Angesicht der Krisen nicht zu resignieren?
Mich mit meinem Nervensystem anzufreunden.
Das klingt vielleicht erstmal ungewöhnlich. Aber, seit ich tiefer verstanden habe, wie mein Nervensystem funktioniert, wie es ständig und ganz automatisch mit meiner Umwelt in Kontakt tritt, erscheint mir dieser Schritt wie selbstverständlich.
Was bedeutet es mich mit meinem Nervensystem anzufreunden?
Lass mich mit einer kurzen Erfahrung beginnen:
Letzte Woche war ich komplett überfordert.
Noch bevor der Tag richtig begonnen hatte, war ich schon erschöpft – die To-do-Liste lang, mein Kopf neblig, mein Körper angespannt. Ich funktionierte nur noch, war reizbar, unkonzentriert, langsam. Als meine Tochter dann fröhlich zu singen begann, war das für mich einfach zu viel. Ich sehnte mich nach einem Moment Ruhe und zog mich zurück. Was hatte mein Nervensystem so aktiviert? Es dauerte bis ich eine Antwort fand und ich zog an diesem Nachmittag noch einige Schleifen: Versuche der Regulation und erneute Überforderung.
Was mich schließlich wieder in meine Mitte brachte, war ein Global Social Witnessing Online-Raum zu verkörperter Wahrnehmung und Co-Regulation: Mich gemeinsam mit anderen bewusst den schmerzhaften Geschehnissen unserer Welt zuzuwenden, half mir erstaunlicherweise mich zu regulieren. Einfach da sein mit dem was ist: Schmerz, Wut, Trauer, Überforderung, Ohnmacht. All das wahrzunehmen, was im Körper als Ausdruck des Nervensystems passiert, damit präsent bleiben und mich damit nicht mehr allein zu fühlen.
Etwas überraschend, aber so fand ich meine innere Balance wieder und meine Begeisterung für Global Social Witnessing wächst. Ein leiser, tiefer Shift gelang mir so an diesem Abend. Am Ende konnte ich meine unruhige Tochter mit viel Ruhe und Geborgenheit in den Schlaf begleiten und verstand: es war nicht vorrangig meine To-Do Liste, die mich so stresste, sondern das innere Abbild meines Nervensystems, das mit dem Weltgeschehen – nah und fern – verbunden ist.
Was ich aus dieser Erfahrung über mein Nervensystem gelernt hab:
1. Wir sind alle miteinander und mit den Geschehnissen in der Welt verbunden.
Dass wir miteinander verbunden sind, ist keine neue Erkenntnis. Doch ich habe auf einer tieferen Ebene verstanden, was das für mich konkret bedeutet und wie sehr diese Verbindung meinen Alltag beeinflusst. Ich war an diesem Tag innerlich so gestresst, weil ich offensichtlich nebenbei beim Radio hören und beiläufigen alltäglichen Kontakt mit meinem Partner unbewusst für mein Nervensystem stressige Signale empfangen hatte. Ich erlebte diese unbewusste Verbindung in diesem Fall als Überforderung. Es war letztlich nicht meine To-Do liste, die mich erschöpfte, sondern mein alarmiertes Nervensystem.
Unser autonomes Nervensystem scannt permanent – und völlig unbewusst – ob unsere Umgebung Sicherheit oder Gefahr ausstrahlt. Dabei achtet es u.a. auf feine Signale anderer Menschen: etwa auf Körperspannung, Haltung, Tonfall, Mimik, Augenkontakt, aber auch Herzfrequenz und Atmung des Gegenübers. Es spielt keine Rolle, ob das ein Familienmitglied, ein Kollege, ein Nachrichtensprecher im Radio oder jemand in einem Instagram-Video ist. Wir alle senden und empfangen permanent Signale von Sicherheit und Gefahr. (Beim Wort Gefahr möchte ich differenzieren von äußerer, objektiver Bedrohung und einer subjektiv empfundenen inneren Realität von Gefahr. Ich spreche von letzterem.)
Diese automatische Bewertung nennt sich Neurozeption – eine Wortschöpfung aus „Neuro“ (für das Nervensystem) und „Perception“ (Wahrnehmung). Sie beeinflusst laufend unseren inneren Zustand: Ob wir uns sicher und offen fühlen, angespannt und alarmiert sind oder innerlich abgeschaltet und erstarrt.
Neurozeption läuft unwillkürlich ab, das bedeutet wir können sie nicht direkt steuern. Aber: Wenn wir anfangen, bewusst wahrzunehmen, was unser Körper ohnehin die ganze Zeit registriert („bring perception to neuroception“), dann holen wir das Unbewusste ins Bewusstsein. Und genau da können wir anfangen auf unseren geistigen und körperlichen Zustand Einfluss zu nehmen und uns auch in stressigen Situationen mitbekommen und bewusst damit umgehen lernen.
Diese Erkenntnisse haben meinen Blick auf die vielen Krisen unserer Zeit verändert und meine Verantwortung darin. Ja, ich kann etwas bewirken: Ich kann die Geschehnisse ein Stück bewusster wahrnehmen, lernen die Reaktionen meines Nervensystems zu regulieren und so mit mir selbst und der Welt präsent und antwortfähig bleiben, statt mich im Strudel der Überforderung zu verlieren.
Meine Einladung bevor du weiterliest:
Nimm dir einen Moment Zeit deinen Körper zu spüren, bewusst ein – und wieder aus-zu-atmen und dich etwas zu bewegen. Das hilft deinem Nervensystem ein Stück weit die Gedanken zu verarbeiten.
2. Regulation und Co-Regulation
Meine zweite große Erkenntnis: Bei all der Informationsflut die unser Körpersystem ständig rein und raus lässt, braucht es oft erstaunlich wenig, um wieder in einen regulierten Zustand zu kommen. Wahrnehmen, dass wir grad nicht in einem entspannten Zustand sind, macht schon einen Unterschied – vorausgesetzt, Bewusstsein darf in die unbewussten, oft schmerzhaften Stellen unseres Erlebens fließen.
Ich habe erlebt, wie sich mein gesamter körperlicher und geistiger Zustand entspannen konnte, sobald ich mir meinen Schmerzpunkt bewusst gemacht und mich ihm liebevoll zugewendet habe. Ich hab ihn nicht mehr weggeschoben oder übergangen, sondern wahrgenommen, ihn beschrieben und mitgeteilt. Ja, denn besonders heilsam war es, diese innere Zuwendung in einem präsenten, mitfühlenden Gruppenrahmen zu erleben. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie kraftvoll Co-Regulation ist – also die gegenseitige Regulation über die Verbindung mit anderen (Nervensystemen). Denn Neurozeption funktioniert eben auch bei der Regulation: Wenn eine Gruppe einen sicheren Rahmen hält, kann sich mein Nervensystem wieder entspannen, weil es sich wahrgenommen und sicher fühlt.
Zum Abschluss nochmal zusammengefasst, was mir und meinem Nervensystem hilft in herausfordernden Momenten ruhig und handlungsfähig zu bleiben:
🧘🏼♂️
Mehr darüber erzähle ich in meinem nächsten Blogbeitrag
Innehalten
Wahrnehmen, was ist
einmal tief Durchatmen
liebevolle Selbstfürsorge – was tut mir jetzt gut
und – wenn möglich – Halt in einer Gemeinschaft
Diese bewusste Beziehung zu meinem Nervensystem ist für mich eine kraftvolle innere Haltung geworden.